Unterweisung: Wie Sie Kollegen zum Arbeitsschutz motivieren
Immer wieder kommen Behörden und Berufsgenossenschaften bei ihren Unfalluntersuchungen zu dem Ergebnis: Der Verunglückte hat den Unfall durch Fehlverhalten wider besseres Wissen selbst (mit) verursacht. Im Klartext: In vielen Fällen kennen Beschäftigte sowohl die möglichen Folgen ihres Verhaltens als auch die Möglichkeiten, wie sie sich dagegen schützen können – und nehmen das Risiko trotzdem in Kauf. Als Sicherheitsfachkraft kann Sie das nicht kalt lassen. Lesen Sie darum, was dahinter steckt, wenn Ihren Kollegen die Sicherheit egal ist – und wie Sie der gefährlichen Risikofreude ein Ende machen.
Routine – die Sicherheitsfalle
Jeder Mensch hat ein persönliches Maß an Risiko, das er einzugehen bereit ist. Er schätzt außerdem unbewusst permanent ein, ob eine Situation gefährlich ist oder nicht. Ob er sich sicherheitsgerecht oder sicherheitswidrig verhält, hängt davon ab,
- wie hoch er das mit seiner Handlungsweise verbundene Risikopotenzial einschätzt und
- wie hoch das Risiko ist, das er zu akzeptieren bereit ist.
Dabei spielen seine Persönlichkeit („Hasenfuß“ oder „Draufgänger“), aber auch vorübergehende psychologische Befindlichkeiten (z. B. Wut, Stress) eine Rolle. 70 % der Beschäftigten schätzen die Gesundheitsrisiken an ihrem Arbeitsplatz realistisch ein. 15 % überschätzen sie. Und die restlichen 15 % halten sie für weniger gravierend, als sie sind. Sie leben besonders gefährlich, wie das Dresdener Berufsgenossenschaftliche Institut Arbeit und Gesundheit herausfand: Denn jeder 2. Unfall geschieht, weil der Verunglückte das Gefahrenpotenzial bei seiner Tätigkeit unterbewertet – Routine wird zur Falle. Ein typisches Beispiel hierfür ist das Gehen. Sehr viele Unfälle – auch sehr viele schwere – entfallen immer noch auf Stolpern, Rutschen und Stürzen (SRS). Dabei gibt es immer wieder Knochenbrüche, weil Beschäftigte beim Gehen z. B. Eine SMS schreiben oder nicht auf Stolperstellen auf ihrem Weg achten. … „Was soll denn auf dem Gang über den Hof schon passieren?“ Bei Tätigkeiten mit extrem hohem Risikopotenzial (z. B. Bomben entschärfen) hingegen ist die Unfallrate gleich null. Denn hier weiß jeder, was eine Fehlhandlung bedeuten kann … Die meisten Beschäftigten arbeiten aber an Arbeitsplätzen mit mäßigem Unfallrisiko. Das macht sicherheitswidriges Verhalten oft akzeptabel, sowohl für Beschäftigte als auch für Vorgesetzte – vor allem dann, wenn Zeitdruck herrscht.
„Erlernter“ Leichtsinn
Ob wir uns eher sicherheitsbewusst oder eher leichtsinnig verhalten, hängt von diesen 5 Faktoren ab:
- Einschätzung des Gefährdungspotenzials: Halten wir eine Situation für ungefährlich, kümmern wir uns nur wenig um die Sicherheit.
- Nutzen des Fehlverhaltens: Erscheint uns der Nutzen eines sicherheitswidrigen Verhaltens als hoch (z. B. Zeitersparnis), die daraus resultierenden Folgen aber to lerabel, neigen wir zu diesem Verhalten.
- Folgenlosigkeit: Bleiben sicherheitswidrige Verhaltensweisen (mehr fach) ohne negative Folgen, werden sie unter vergleichbaren Umständen wiederholt – bis sie uns schließlich zur Gewohnheit werden.
- Neubewertung: Wird uns bewusst, dass das durch unser Verhalten bedingte Risiko über unserer Akzeptanzschwelle liegt, stehen hingegen die Chancen für eine Verhaltensänderung gut.
- „Strafen“: Hat ein sicherheitswidriges Verhalten negative Konsequenzen (Unfall oder arbeitsrechtliche Folgen), ändern wir es meist sofort.
Die Bereitschaft zu riskantem Verhalten wird also zu einem beträchtlichen Teil auch „erlernt“. Wir „experimentieren“ sozusagen mit sicherheitswidrigen Verhaltensweisen (aus Be quem – lichkeit oder unter Zeitdruck). Wenn sie erfolgreich sind, bleiben wir dabei; „Misserfolge“ – z. B. Ein Unfall oder eine deutliche Ermahnung durch den Vorgesetzten – veranlassen uns zur Verhaltensänderung. Diese Einsicht liefert Ihnen einige wichtige Ansatzpunkte, auf das Verhalten der Beschäftigten einzuwirken. Konkret geht es darum, sicheres Verhalten für die Beschäftigten erstrebenswerter zu machen als unsicheres – genau das bedeutet „motivieren“. Unfälle werden in den meisten Berufen als seltene Ereignisse betrachtet. Dementsprechend entspricht die Risikoeinschätzung meist nicht dem objektiven Risiko: Einige Gefahren werden systematisch über-, andere unterschätzt. Dabei gibt es einige Gesetzmäßigkeiten:
- Das Risiko bekannter und vertrauter Gefahren wird stets unter-, das unbekannter und „exotischer“ Gefahren hin gegen überschätzt (Beispiel „Vogelgrippe“).
- Risiken, denen man sich ausgeliefert fühlt, werden über-, Risiken, die man beeinflussen kann, unterschätzt.
So gibt es leidenschaftliche Autofahrer, die beim Gedanken ans Fliegen Schweißausbrüche bekommen – Risiken, deren Nutzen bekannt ist, werden unterschätzt. Wenn Sie sichere Verhaltensweisen Ihrer Kollegen fördern wollen, sollten Sie ihnen darum zunächst eine Rückmeldung über ihr objektives Unfallrisiko geben – am besten anhand der Unfallzahlen und -ursachen in Ihrem Betrieb. Nutzen Sie dazu die Sicherheitsunterweisungen und sprechen Sie folgende Punkte an:
- Welche Unfälle geschehen bei Ihnen häufiger, welche weniger häufig?
- Welche Folgen haben sie?
- Was sind die Ursachen?
Gestalten Sie Sicherheit attraktiver
Eine hartnäckige Ursache von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Erkrankungen sind nicht oder nicht korrekt verwendete persönliche Schutzausrüstungen (PSA). Bei Baustellenkontrollen der Arbeisschutzämter in den Regierungsbezirken Köln und Aachen stellten die Beamten fest, dass zwar 95 % der Beschäftigten an Lärmarbeitsplätzen Gehörschützer besaßen, aber nur jeder 2. sie auch benutzte. Egal, ob Schutzbrille, Gesichtsmaske oder Gehörschutz: Fast immer wird das Tragen der PSA als unbequem, wenn nicht sogar hinderlich bei der Arbeit empfunden. Die Sicht ist oft eingeschränkt, die Beschäftigten schwitzen leichter oder tragen zusätzliches Gewicht. Die Akzeptanz von PSA hängt darum erheblich vom Tragekomfort ab: Wird dieser als hoch empfunden, ist auch die Tragequote hoch (und umgekehrt). Wenn Sie also die Benutzung der PSA fördern wollen, wählen Sie diese nicht nur nach funktionalen Kriterien, sondern auch nach Tragebequemlichkeit aus. Auch die Optik spielt für viele Beschäftigte eine Rolle: Modisch schicke Sicherheitsschuhe und Schutzbrillen kommen bei vielen besser an als langweilige Einheitsprodukte. Planen Sie genügend Zeit ein. Sicherheit kostet oft Zeit. Die Beschäftigten dürfen darum niemals in Versuchung kommen, notwendige Sicherheitsmaßnahmen zu unterlassen, um ihre Aufgaben pünktlich zu erledigen. Sorgen Sie also dafür, dass der entsprechende Zeitbedarf – zum Beispiel für die Sichtprüfung von Maschinen vor Arbeitsbeginn – bei Zeitvorgaben berücksichtigt wird. In anderen Fällen beobachten Sie möglicherweise hartnäckig wiederholtes gefährliches Verhalten, auch wenn gar kein Zeitdruck vorliegt. Beispiel: Fahrzeuge auf dem Firmengelände sind – trotz deutlich sichtbarer Geschwindigkeitsbegrenzung – immer wieder zu schnell unterwegs.
Wenn nichts mehr geht
Wenn alle Maßnahmen, Uneinsichtige zu sicherheitsgerechtem Verhalten zu bewegen, fehlschlagen, bleiben als letztes Mittel nur Sanktionen übrig. Hier müssen Sie immer den jeweiligen Vorgesetzten einschalten. Er ist nicht nur verpflichtet, die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften zu kontrollieren, sondern auch sie durchzusetzen. Das beinhaltet auch, dass er „Verweigerer“ durch disziplinarische Maßnahmen (z. B. Eine Abmahnung) zwingt, die Arbeitsschutzregeln zu befolgen. Wenn dies wirkungslos bleibt, kommt auch die Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz oder sogar die Kündigung in Betracht, da die Beschäftigten den Arbeitgeber bei den Arbeitsschutzmaßnahmen zu unterstützen haben (§ 15 der Berufsgenossenschaftlichen Vor schrift „Grundsätze der Prävention“ BGV A 1). Eine nicht zu unterschätzende Rolle für das persönliche Verhalten in puncto Sicherheit spielt die Unternehmenskultur. Gehören hohe Arbeitsschutzstandards zum Leitbild des Unternehmens und besitzen sie denselben Rang, wie z. B. Wirtschaftliche Ziele, ist auch für den Beschäftigten klar, dass er sich an die Regeln zu halten hat. Wird die Übertretung der Vorschriften dagegen von den Vorgesetzten toleriert oder sogar gefördert, kann kaum ein angemessenes Sicherheitsbewusstsein entstehen. Um eine solche Kultur zu schaffen und zu erhalten, müssen Sie die Vorgesetzten und die Geschäftsleitung auf Ihre Seite ziehen. Weisen Sie gegenüber dem Management immer wieder hartnäckig auf die Folgekosten von Arbeitsunfällen und arbeitbedingten Fehl zeiten hin.
Vorbild geben und loben
Appellieren Sie besonders auch an das Vorbildverhalten der Führungskräfte. Vorgesetzte, die sich ihrer Verantwortung für die Unfallverhütung bewusst sind, verhalten sich selbst beispielhaft. Sie honorieren sicherheitsbewusstes Verhalten ihrer Mitarbeiter durch offen vorgebrachtes Lob. Und: Sie machen jedem klar, dass im Betrieb nur derjenige Führungsfunktionen über nehmen kann, der die Sicherheit genauso ernst nimmt wie die Erfüllung der Aufgaben. Was einem Betrieb die Sicherheit wert ist, drückt sich aber auch in Investitionen aus. Firmen mit besonders niedrigen Unfallraten setzen sichere und ergonomisch gestaltete Arbeitsmittel ein, praktizieren ausreichende Pausenregelungen und machen den Mitarbeitern oft noch weitere Angebote zur Gesundheitsförderung (etwa Rückenschulen). So entsteht gar nicht erst der Eindruck, dass der Arbeitgeber seine Arbeitsschutzverpflichtungen auf die Beschäftigten abwälzt, indem er von ihnen fordert, die Risiken einer unsicheren Arbeitsumgebung durch besondere Vorsicht zu kompensieren.