Psychische Gefährdungsbeurteilung: Vorgaben und Bedeutung 

Psychische Gefährdungsbeurteilung: Vorgaben und Bedeutung 

Psychische Erkrankungen nehmen in unserer digitalisierten und schnelllebigen Welt von Jahr zu Jahr zu. Grund hierfür ist eine Überreizung und Überlastung der Psyche sowie negative Trigger, die langfristig die Übertragung von Botenstoffen im Gehirn verändern. Vor allem der schnelle Wandel der Arbeitswelt und ein Fokus auf Flexibilität und Agilität machen manchen Arbeitnehmern Angst und überfordern sie. Eine aktuelle Statistik gibt aus, dass im Jahr 2021 auf 100 Versicherte der gesetzlichen Krankenkasse 341 Krankentage auf psychische Störungen wie Depression oder Burn-out zurückzuführen sind. Damit liegen psychische Erkrankungen nach Belastungen des Muskel-Skelett-Systems auf Platz 2 der häufigsten Krankheitsarten in Deutschland. Der Arbeitsplatz und die Arbeitsintensität spielen bei psychischen Erkrankungen eine wesentliche Rolle. Aus diesem Grund schreibt der Gesetzgeber grundsätzlich auch eine psychische Gefährdungsbeurteilung für jeden Arbeitsplatz vor. Dieser Artikel erklärt, was unter einer psychischen Gefährdungsbeurteilung zu verstehen ist, warum sie wichtig ist und wie sie in der Praxis durchgeführt wird. Darüber hinaus geht diese Abhandlung im Allgemeinen darauf ein, welche psychischen Belastungen am Arbeitsplatz häufig auftreten und mit welchen Maßnahmen Arbeitgeber die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter fördern können.
Inhaltsverzeichnis

Was ist eine psychische Gefährdungsbeurteilung?

Im § 5 des Arbeitsschutzgesetzes werden psychische Belastungen bei der Arbeit als eine von sechs Gefährdungen am Arbeitsplatz explizit benannt. Arbeitgeber sind auf Grundlage des Arbeitsschutzgesetzes verpflichtet, die mögliche psychische Gefährdung an einem Arbeitsplatz umfassend zu ermitteln. Die Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) geht im § 3 ebenfalls auf die „physischen und psychischen Belastungen der Beschäftigten ein, die bei der Verwendung von Arbeitsmitteln auftreten.“ 

Das Ziel einer psychischen Gefährdungsbeurteilung besteht gemäß § 4 ArbSchG darin, „die Arbeit so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit vermieden und die verbleibende Gefährdung gering gehalten wird.“ 

Hierfür müssen die Gefahren proaktiv an der Quelle bekämpft und arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden. Eine effektive Prävention von psychischen Belastungen kann ausschließlich dann gelingen, wenn alle Belastungssituationen im praktischen Arbeitsalltag eindeutig und systematisch erfasst werden. Objektivität ist entscheidend, um das wahre Ausmaß der psychischen Belastungen am Arbeitsplatz zu verstehen und geeignete präventive Maßnahmen zu implementieren.

Warum ist eine psychische Gefährdungsbeurteilung wichtig? 

Dass eine professionelle psychische Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz alternativlos ist, erkennt man bei einem Blick auf die aktuellen Arbeitsunfähigkeitsstatistiken. Dass der Anteil der psychischen Krankheiten und Belastungen infolge von Belastungsfaktoren von Jahr zu Jahr steigt, ist alarmierend. Neben der Tatsache, dass jede psychische Erkrankung den Mitarbeiter, seine Familie und sein Umfeld stark belastet und im schlimmsten Fall zu einer frühzeitigen Verrentung führen kann, sind die Auswirkungen auf den Betrieb ebenfalls nicht zu vernachlässigen. 

Vor allem vor dem Hintergrund des fortschreitenden Fachkräftemangels infolge des demografischen Wandels muss jedes Unternehmen das Ziel haben, die Beschäftigten im Betrieb langfristig zu binden. Dies gelingt neben einem marktgerechten Gehalt und verschiedenen Benefits vor allem durch ein modernes Arbeitsumfeld und Arbeitsbedingungen, die die psychische und physische Gesundheit schützen. 

Die Arbeitsorganisation und das Erkennen und Eliminieren von Belastungsfaktoren sind entscheidend, um die psychische Belastung für Mitarbeiter gering zu halten. Durch eine proaktive und faktenorientierte psychische Gefährdungsbeurteilung kommen Unternehmen und Führungskräfte ihrer Fürsorgepflicht nach, motivieren Mitarbeiter und stellen sicher, dass diese langfristig und effizient für das Unternehmen tätig sein können. 

Wie wird eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchgeführt? 

Viele Arbeitsbelastungen haben eine direkte Auswirkung auf die Psyche eines Menschen. Fachlich werden Arbeitsbelastungen in vier Unterpunkte eingeteilt: 

  1. Arbeitsorganisation,
  2. Arbeitsaufgabe,
  3. Arbeitsumgebung,
  4. Soziale Beziehungen.

Bei einer psychischen Gefährdungsbeurteilung werden alle Arbeitsbedingungen im Unternehmen systematisch und mit dem Ziel untersucht, Arbeitsbelastungen zu reduzieren und die Arbeitsabläufe zu verbessern. Grundlage für eine psychische Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz ist das Arbeitsschutzgesetz. Es verpflichtet Arbeitgeber zur Gefährdungsbeurteilung und lässt Führungskräften gleichzeitig einen individuellen Spielraum, wie diese in der Praxis durchgeführt werden kann. 

Unternehmen, die erfolgreich psychische Gefährdungsbeurteilungen im Betrieb implementiert haben, konnten mit den folgenden drei Schritten psychische Belastungen am Arbeitsplatz sichtbar machen, dokumentieren und signifikant reduzieren:

  1. Einbinden der Mitarbeiter und ihrer Vertretungen, beispielsweise des Betriebsrats.
  2. Erfassen und Beurteilen von psychischen Belastungen in einem Workshop oder in einer Mitarbeiterbefragung.
  3. Alternativ können qualifizierte Beobachter eingebunden werden, die die Arbeitsbedingungen vor Ort bewerten, die Mitarbeiter befragen und Handlungsempfehlungen geben.

Entscheidend für den langfristigen Erfolg und für die Reduzierung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz sind Offenheit, Ehrlichkeit und Transparenz. Werden die Mitarbeiter bestmöglich in den Prozess eingebunden, können Fehlerquellen offengelegt und abgestellt werden. 

Eine schriftliche Dokumentation, in die SMART-Ziele eingebunden werden, sorgt dafür, dass neben der Beurteilung von Belastungsfaktoren ebenfalls die Umsetzung klar und anhand von Teilzielen definiert wird. Statt große Ziele in kürzester Zeit umzusetzen, sollten die erkannten psychischen Belastungen am Arbeitsplatz realistisch betrachtet und messbar und „step by step“ verbessert werden. 

Was sind psychische Belastungen am Arbeitsplatz? 

Jeder Mitarbeiter steht an seinem spezifischen Arbeitsplatz vor individuellen Herausforderungen, durch die psychische Belastungen am Arbeitsplatz entstehen können. Typische psychische Belastungen am Arbeitsplatz sind: 

  • Unrealistische Fristen und Leistungsdruck durch zu hohe Ziele,
  • Zu hohe Erwartungen des Managements sowie Druck durch einschüchternde Kommunikation,
  • Mangelnde Kontrolle über die eigene Arbeit,
  • Unzureichende Abstimmung und ungenügende cross-funktionale Zusammenarbeit,
  • Unklare Arbeitsaufgaben und Erwartungen, 
  • Fehlende oder unzureichende Einarbeitung oder Technologien und Arbeitsbedingungen, für die eine fachliche Schulung fehlt,
  • Ein unfreundliches, belastendes und forderndes Arbeitsumfeld,
  • Hierarchien, die Teamarbeit und Innovationen einschränken,
  • Ein Kommunikationsumfeld, das Mitarbeitern die Chance nimmt, eigene Meinungen anzubringen,
  • Mobbing durch Kollegen oder Vorgesetzte.

Psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu erkennen und wirksam abzustellen ist entscheidend, um die möglichen negativen Auswirkungen auf die Leistung und das Wohlbefinden der Beschäftigten zu verhindern. Psychischer Stress bei Mitarbeitern führt unter anderem zu Reizbarkeit, Angstzuständen, Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhten und langfristigen Fehlzeiten, Verhaltensänderungen und körperlichen Symptomen wie Kopfschmerzen und gedrückter Stimmung. Letztlich führen diese unbehandelt zu schwerwiegenden Gesundheitsrisiken wie Herzkrankheiten, Depressionen und Angstzuständen. 

Welche Maßnahmen schützen vor psychischen Belastungen am Arbeitsplatz? 

Arbeitgeber können viel tun, um psychischen Belastungen am Arbeitsplatz vorzubeugen. Erfolgversprechende Maßnahmen sind unter anderem: 

  • Förderung eines positiven und motivierenden Arbeitsumfelds,
  • Gelebte und offene Kommunikation zwischen Management und Mitarbeitern,
  • Aufbau von Vertrauen zwischen Mitarbeitern und direkten Führungskräften durch regelmäßige Kommunikation und konstruktives Feedback,
  • Flexible Arbeitszeitmodelle,
  • Teambuilding-Maßnahmen, um das Gemeinschaftsgefühl zu fördern,
  • Prinzip der „offenen Tür“, um offene Kommunikation mit allen Hierarchieebenen sicherzustellen,
  • Beurteilung von psychischen Belastungen und Belastungsfaktoren und klare Ziele zur Verbesserung,
  • Eine moderne Führungskultur mit einem kooperativen Führungsstil. 

Ist eine psychische Gefährdungsbeurteilung verpflichtend?

Seit 2013 werden im Arbeitsschutzgesetz neben vielen anderen Gefährdungen ebenso die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz thematisiert. Aus diesem Grund ist eine psychische Gefährdungsbeurteilung ebenso verpflichtend wie die Gefährdungsbeurteilung des Arbeitsplatzes auf physikalische, chemische und weitere Gefährdungen. Da das ArbSchG gleichzeitig keine explizite Vorgabe macht, wie die psychische Gefährdungsbeurteilung durchgeführt werden muss, haben Arbeitgeber die Freiheit, diese Maßnahme des Arbeitsschutzes individuell an ihr Unternehmen anzupassen. 

Die psychische Gefährdungsbeurteilung ist nicht ausschließlich als Erfordernis des Gesetzgebers zu verstehen. Vielmehr haben Unternehmen ein hohes Eigeninteresse, dass ihre Mitarbeiter psychisch und physisch belastbar sind und Belastungsfaktoren reduziert werden. Dies führt zu mehr Effizienz, zufriedenen Mitarbeitern und einem modernen und zukunftsorientierten Unternehmen, das in Zeiten des Fachkräftemangels für Bewerber und Kunden attraktiv ist.  

Was sind die Folgen einer unterlassenden psychischen Gefährdungsbeurteilung?

Eine psychische Gefährdungsbeurteilung ist ein wesentlicher Baustein für den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit am Arbeitsplatz. Wird die psychische Gefährdungsbeurteilung eines Arbeitsplatzes nicht oder unzureichend durchgeführt und werden Beschäftigte durch Belastungsfaktoren nachweislich geschädigt, kann dies ernste rechtsrelevante Folgen haben. Im ersten Schritt wird der Arbeitgeber bei einer unterlassenen psychischen Gefährdungsbeurteilung und insgesamt bei einem Negieren von Gefährdungsbeurteilungen seiner Fürsorgepflicht nicht gerecht. Der Gesetzgeber sieht bei einer derartigen Ordnungswidrigkeit gemäß § 25 ArbSchG Geldbußen zwischen 5.000 Euro und 30.000 Euro vor. 

Wer beharrlich gegen die Verordnungsermächtigungen des Gesetzgebers verstößt oder durch eine vorsätzliche Handlung Leben oder Gesundheit eines Beschäftigten gefährdet, kann zusätzlich mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder einer individuellen Geldstrafe und Schadenersatz belegt werden. Dies drückt der § 26 ArbSchG aus. Eine Freiheitsstrafe und Schadenersatz wird vor allem in Fällen verhängt, in denen grob fahrlässiges Verhalten nachgewiesen wird oder ein Arbeitsunfall entstanden ist. In diesem Fall wird die gesetzliche Unfallversicherung den Arbeitgeber für seine Versäumnisse in Regress nehmen. 

Wie oft muss eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchgeführt werden? 

Die Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) gibt Arbeitgebern im § 3 die Verpflichtung auf, eine Gefährdungsbeurteilung regelmäßig zu überprüfen. Dabei ist der Stand der Technik zu berücksichtigen. Soweit erforderlich, sind die Schutzmaßnahmen bei der Verwendung von Arbeitsmitteln entsprechend anzupassen. Der Arbeitgeber hat die Gefährdungsbeurteilung vor allem dann unverzüglich zu aktualisieren, wenn sicherheitsrelevante Veränderungen der Arbeitsbedingungen auftreten, nach einem Arbeitsunfall neue Erkenntnisse vorliegen oder die Überprüfung der Schutzmaßnahmen ergeben hat, dass diese nicht wirksam oder ausreichend sind. 

Eine gesetzliche Frist zur Wiederholung der Aktualisierung der psychischen Gefährdungsbeurteilung existiert nicht. Aus Unternehmenssicht macht es gleichzeitig Sinn, sich regelmäßig mit dem Themenbereich der psychischen Belastungen am Arbeitsplatz zu beschäftigen und im Mindestfall alle zwei oder drei Jahre eine Überprüfung vorzunehmen. 

Wer führt die psychische Gefährdungsbeurteilung durch? 

Der Arbeitgeber ist allein dafür verantwortlich, die psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Hierfür sollte er: 

  • Die Beschäftigten, 
  • Die Arbeitnehmervertreter, 
  • Externe Fachleute, 
  • Den Betriebsarzt und 
  • Andere fachkundige Personen involvieren. 

Dieses Vorgehen stellt sicher, dass die psychische Gefährdungsbeurteilung professionell und gesetzeskonform durchgeführt wird.